Benecke’s (Dippens) Gasthaus in Elstorf
Beim Saalneubau 1925 entstand zwischen dem alten Gaststättengebäude und dem Saalneubau ein länglicher Raum, wie geschaffen für einen Übungsraum; es wurde für viele Jahre unser Sängerzimmer und war die Heimat für die beiden Gesangvereine MGV Germania und den gemischten Chor Lyra.
Der Haupteingang war der Saaleingang vom Garten aus. Im Eingang war rechts die Garderobe und links die Tür zum Sängerzimmer. Der Fahnen- und Notenschrank, das gemeinsame Klavier von Gastronomie und MGV sowie Tische und Stühle für vier Stimmen ließen gerade noch Platz für eine Choraufstellung.
Alles lief friedlich, harmonisch und stimmungsvoll, bis der 1. September 1939 kam. Begonnen hatte an diesem Tage der 2. Weltkrieg. Ältere Sangesbrüder berichteten, dass das Singen während des Blitzkrieges weiter gehen sollte. Als aber die ersten Familien aus Elstorf, Schwiederstorf und Umgebung die Nachricht erhielten, dass Angehörige gefallen waren, wurde das Singen sofort eingestellt. Der Klavierdeckel und der Fahnenschrank wurden abgeschlossen und es sollte sechs Jahre so bleiben; das Vereinsleben ruhte.
Das Sängerzimmer wurde während dieser Zeit dann zweckentfremdet. Hans-Peter Benecke, Sohn des Besitzers von Dippens Gastwirtschaft und ich, Erhard Kröger, Sohn des Lehrers Kröger, wohnhaft in der alten Volksschule in Elstorf, hatten die Gelegenheit, regelmäßig die Nutzung unseres Sängerzimmers in Augenschein zu nehmen. Zunächst hatte eine Flakbatterie den Saal und alle anliegenden Räume beschlagnahmt.
Eine Scheinwerfer- und Horchgerätebatterie hatte sich Elstorf als ihren Standort ausgesucht. Ein junger Leutnant namens Ulrich Schnabel hatte als Batterieführer das Kommando. Der junge Leutnant war nach dem Krieg viele Jahre aktiver Sänger im MGV und hat die Vereinschronik aufgebaut und gepflegt. Der Saal und das Sängerzimmer waren in ein paar Tagen fast bis unter die Decke mit Kriegsmaterial vollgepackt. Vier Flaksoldaten hielten so lange Wache, bis am Ortsausgang Richtung Rade ein Barackenlager entstanden war. Als dieses fertig war, wurden die Räume bei Dippens wieder frei. Der hiesigen Flakbatterie wurden Oberschüler aus Hamburg als Flakhelfer zugeteilt.
Aus dem Sängerzimmer wurde vorübergehend ein Klassenzimmer für die Schüler. Der ausgebombte Lehrer Bleybaum aus Hamburg erteilte den Unterricht und führte die Schüler zum Notabitur. Unser Sängerzimmer wurde danach für die ersten Flüchtlinge Durchgangsquartier, im Saaleingang und in der Garderobe hatte ein Apothekerehepaar aus Schlesien sich sesshaft gemacht.
Am 20. April 1945 zog die englische Armee, von der Schützenstraße aus kommend, in Elstorf und somit auch in das Gasthaus Benecke ein.
Dippens Gasthaus - das ehemalige Vereinslokal vom MGV Germania, Foto aus dem Jahr 1957
Ende April sprach Lehrer Albert Brenneke mich an, ob ich nicht einige singbereite, musikalische junge Burschen zum Singen animieren könnte. Ihm selbst lag es sehr am Herzen, die Vereinstätigkeit im Ort wieder aufzunehmen. Aber zunächst mussten wir unser Sängerzimmer bei Dippens inspizieren. Ich habe mit Hans-Peter Benecke, Reinhold Maack und Otto Mojen aufgeräumt. Der Fahnenschrank war offen und die Fahne fehlte. Unter den Liederbüchern und Noten lagen die Fahnenstangen. Alles lag durcheinander, englische Zeitungen und unsere Noten und Bücher waren zum Teil mit Öl beschmutzt. Das Klavier war demoliert, nur „Hänschen klein“ konnte man noch darauf spielen. Da die Hofscheune der Gastwirtschaft Benecke abgebrannt war, diente der große Saal als Getreidelager und das Sängerzimmer als Kornkammer.
Mit einigen Jung- und Altsängern mussten wir unter Leitung unseres Altdirigenten Albert Brenneke mit dem Gastwirtsehepaar Benecke Verhandlungen aufnehmen, ob das Singen in Dippens Räumlichkeiten wieder möglich wäre – Dora und Wilhelm Benecke willigten ein. Da das normale Sängerzimmer noch als Scheune diente, mussten wir vorerst in der Gaststube und in der Entreestube singen. Fliegerbier ohne Schaum und Fassbrause mit Schaum waren die Getränke der damaligen Zeit.
Der MGV hatte ganz schnell regen Zuspruch. Es kam auch daher, dass halb Deutschland unterwegs war, es war ein Kommen und Gehen. Dirigent Albert Brenneke war oft ängstlich bei diesen Massenansammlungen, weil Ver- und Ansammlungen der Bürger von der britischen Militärregierung verboten worden waren. Es gab in dieser Zeit noch immer eine nächtliche Ausgangssperre.
Der Ein- und Ausgang zur Gastwirtschaft führte über den Hintereingang, über die Diele und Waschküche. Unser strenger Dirigent gab einige Male bekannt: „Dieses ist keine Vereinstätigkeit, hier ist jeder für sich selbst verantwortlich, wir singen, weil wir Freude am Singen haben!“ Als dann der Sommer kam, wurden Stimmen laut: „Lasst uns doch einmal draußen singen!“ Gesagt – und getan! Stühle und Bänke wurden mit nach draußen genommen, einige Sänger standen auf den Eingangsstufen. Wir sangen drei Lieder, die wir auswendig konnten („Vineta“, „Die Himmel rühmen“, „Beim Kronenwirt heute ist Jubel und Tanz“).
Wir hatten schon lange keine Engländer mehr gesehen. Das Lied „Vineta“ war gerade angefangen, da kam aus Richtung Buxtehude ein Motorradfahrer auf uns zu, hielt vor uns mit starkem Scheinwerfer an, stellte seinen Motor aus. Als wir alle drei Lieder gesungen hatten, verschwand er in Richtung Rade. Es stellte sich heraus, dass es ein englischer Militärpolizist gewesen war. Wir waren alle erleichtert, besonders die ehemaligen Soldaten, die ihre Entlassungspapiere noch nicht in Ordnung hatten.
Nach und nach entspannte sich die Lage. Dippens bauten ihre Scheune wieder auf und wir konnten in das Sängerzimmer zurückkehren. Der Vereinswirt Wilhelm Benecke unterstützte uns als Sänger im zweiten Bass. Er kam regelmäßig zu den Proben durch das kleine Stubenfenster, der Grund war, es gab keine Tür zur alten Gastronomie; der Weg außen herum war ihm zu weit. Wichtig war für ihn, dass er unter einem Arm seine Geldtasche, unter dem anderen Arm die Rauchwaren tragen konnte.
Ab 1950 fand regelmäßig am 1. Weihnachtstag ein Sängerball statt. Obgleich der Saal jetzt nicht mehr als Scheune diente, fühlten sich die Mäuse hier noch sehr wohl. Der erste Ball mit lauter Blasmusik sorgte aber dafür, dass die Mäuse für immer verschwanden.
Da niemand bereit war, Dippens Gasthaus weiter zu führen, mussten wir Sänger uns 1992 ein neues Zuhause suchen. Wir waren sehr traurig, aber wir fanden in der Gastwirtschaft Meinschien eine neue Heimat, in der wir uns mittlerweile sehr wohl fühlen. Wir haben auch dort wieder unser Sängerzimmer.
Zu den Bildern von Dippens Gasthaus möchte ich noch Folgendes berichten:
Die hauseigenen Pferde vom Landwirtschaftsbetrieb waren sehr anspruchsvoll, ihre Stallungen waren mit Ausblick zum Ortszentrum – eine Augenweide. Viele Durchreisende zückten ihren Photoapparat und haben zur freundlichen Erinnerung ein Andenken mitgenommen.
Der Fuchs war etwas älter und hat nur mit Zaumzeug aus seinem Stall herausgeschaut: Er wusste, was sich gehört! Der Schimmel war ein Armeepferd. Kavalleriesoldaten hatten ihn nach einem Herbstmanöver 1938 hier zurück gelassen. So ist er als Fohlen bei Dippens aufgewachsen. Auf deren Weide (wo jetzt Sporthalle und Sportplatz sind – nahe Schwiederstorf) hat es seine Jugend zugebracht. Wenn es abends von dort heimwärts ging, kehrte es bei Kaufmann Fröhlking ein, sieben Stufen, die Ladentür, die Ausstellungsware (zum Teil aus Glas) waren kein Hindernis. Am Tresen holte es sich sein Leckerli. Am bunten Halsband hing ein kleiner Einkaufskorb. So hat die illustrierte Presse von einigen Heimatblättern über diese Seltenheit berichtet.
Wie ein Trecker die Pferde abgelöst hat, haben wir uns mit Wehmut von unseren Freunden verabschiedet. Kaufmann Karl Fröhlking hat nochmal versichert, dass der Schimmelkunde bei den abendlichen Einkäufen nie etwas zerstört hat. Das Fachwerksgebäude an Dippens Krug wurde später für den Sparkassen-Neubau abgerissen.
Erhard Kröger